Badische Zeitung vom 21. November 2001
Schnelle Drogen verlangen schnelle Hilfe
In Frankfurt hat sich eineCrack-Szene etabliert – und ein neuartiges Projekt, um den Süchtigen zu helfen / Großstadtphänomen bald auch auf dem Land?
Von unserem Redakteur Franz Schmider

 

In Sichtweite glänzen die Glasfassaden der Großbanken, ein gepanzerter Transporter, eskortiert von zwei Mannschaftswagen der Polizei, rollt über die gesperrte Straße in eine Tiefgarage, hinter den Fenstern der Bürohäuser sitzen Krawattenträger an ihren Bildschirmen und Telefonen und verschieben Millionen. Das alles hat Martin Dörrlamm bei seiner Arbeit täglich im Blick.

Martin Dörrlamm bewegt sich nicht in einem besseren Wohngebiet. „Afghanischer Verein“ steht noch auf dem Klingelschild in der Niddastraße in Frankfurt, direkt daneben „Walk Man“ – hinter dem einen verbarg sich bis zu seiner Schließung das inoffizielle Konsulat der Taliban in Deutschland, hinter dem anderen ein ambitioniertes Projekt der Überlebenshilfe für Drogenabhängige. Der „große Druckraum“ im Erdgeschoss braucht kein Schild.

„Hey Martin“, kommt ein junger Mann auf den Sozialarbeiter zugestürmt, kaum hat der sein Büro verlassen, „ich krieg’ noch ’ne Revanche.“ Das „Nein“ überhört er, das „heute nicht“ ebenso. Aufschub ist für Menschen wie Klaus, wie wir den jungen Mann nennen wollen, ein Fremdwort, nicht nur, wenn es um das Rückspiel beim Tischfußball geht, eine Absage zu ertragen fällt ihnen schwer. Das „Ach bitte“ klingt, als würde hier ein Kind bei den Eltern um ein Eis betteln. Dann wendet sich Klaus urplötzlich Dörrlamms Begleiterin zu. „Jutta, kannst du mir Blut abnehmen? Gleich? Doch, bitte, sofort!“ Jutta Arras-Lührs, die Ärztin vom Malteser-Hilfsdienst, die mit Martin Dörrlamm durchs Frankfurter Bahnhofsviertel streift, verschwindet mit Klaus kurz durch die Glastür, veranlasst die Blutentnahme und einen Test. Klaus hat Angst, sich infiziert zu haben.

Seit acht Jahren macht Martin Dörrlamm so genannte „nachgehende Straßensozialarbeit“, seit vier Jahren im Team mit Jutta Arras-Lührs und einem Sozialarbeiter des Drogenhilfevereins La Strada. Normalerweise sind sie zu dritt unterwegs in den Karrees östlich des Hauptbahnhofes, zwischen Sexshops und Bordellen, schummrigen Bars, Würstchenbuden und Rockertreffs. Inzwischen kennen sie ihre Klienten zumindest vom Sehen, die meisten aber auch namentlich. „Personelle Kontinuität ist wichtig“, sagt Dörrlamm, denn nur so schaffen sie es, den Kontakt zu halten zu den 500 bis 600 Männern und Frauen, die in der Straßenszene vegetieren. Immer auf der Suche – nach neuem Stoff oder einem Freier, nach einem „Stein“ oder einer Chance, irgendwie und ganz schnell an Geld zu kommen. Dazwischen, sagt Jutta Arras-Lührs, „gibt es kurze Momente, in denen sie ansprechbar sind“. Diesen Moment wollen die Helfer nicht verpassen.

Bis 1997, sagt Martin Dörrlamm, seien die Heroin- und die Crackszene streng getrennt gewesen. Beide wollten nichts miteinander zu tun haben. Die Cracker rauchten ihr mit Backpulver zu einem kieselgroßen „Stein“ gepresstes Kokain und schonten ihre Venen, den anderen war das ein Teufelszeug, weil es so extrem und rasch aufputscht, „schnell“ macht. Doch in Frankfurt passierte zuerst, was sich inzwischen auch in anderen Städten anbahnt: „Wir haben praktisch nur noch Polytoxikomane hier“, sagt Jutta Arras-Lührs, also Mehrfachabhängige, die „konsumieren, was der Markt hergibt“, wie es Gerd Fürst vom Drogenreferat der Stadt nennt. Damit vermischen sich die Szenen, inzwischen sind die alkoholtrinkenden Obdachlosen dazugekommen. Seither hat Frankfurt, lange Zeit eine Vorzeigestadt in Sachen Drogenarbeit, wieder ein Problem. Und ein neues Vorzeigeprojekt.

Zwischen 6000 und 7000 Drogenabhängige leben in Frankfurt. Jahrelang hat die Stadt mit großem Aufwand in Zusammenarbeit mit Schulen Aufklärung betrieben, hat Therapieeinrichtungen ausgebaut und gleichzeitig die Polizei gegen die offene Drogenszene an der Taunusanlage aufgeboten. Repression, der Einsatz von Polizei und Justiz, „ist uns ganz wichtig“, sagt Drogenreferent Fürst, denn „ohne die regulative Kraft der Repression erreichen wir mit unseren Angeboten nur sehr wenig“. Man brauche die Ordnungsmacht, um Menschen Grenzen zu setzen, „wie überall im Leben“. Daneben hat Frankfurt aber eine vierte Säule aufgebaut, ein breites niederschwelliges Angebot der Überlebenshilfe mit Konsumräumen, zwei Krisenzentren, der Abgabe der Ersatzdroge Methadon und sozialen Begleitprogrammen ergänzt. Durchaus erfolgreich.

Jetzt musste die Stadt auf das neue Phänomen der wachsenden Crack-Szene reagieren. Denn um Crack zu rauchen, braucht niemand einen Konsumraum aufzusuchen, Drogenhelfer haben es viel schwerer, an die Klienten heranzukommen. Cracker sind aufgedreht und mobil, gelegentlich auch aggressiv und kaum ansprechbar. Und Crack birgt ganz neue Gefahren und bringt auch neue Krankheitsbilder mit sich. „Wir haben eine Zunahme bei psychiatrischen Erkrankungen, vor allem Psychosen, mehr Infektionskrankheiten, Fälle von Tuberkulose, schweren Depressionen, Epilepsien, mehr Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Schlaganfälle“, sagt Jutta Arras-Lührs. Cracker sind aufgedreht, ununterbrochen unterwegs, ein solcher „Run“ kann mehrere Tage dauern. In dieser Zeit vergessen die Süchtigen jegliches Zeitgefühl, vergessen oft sogar zu essen, der Tag-Nacht-Rhythmus geht völlig verloren. Am Ende spritzen sich viele Heroin, um überhaupt wieder zur Ruhe zu kommen. Das macht sie für Helfer sehr viel schwieriger erreichbar. „Wir müssen sie in den kurzen Momenten ansprechen, in denen sie überhaupt ansprechbar sind“, sagt Martin Dörrlamm. Und Hilfe muss dann auch ganz rasch erfolgen können.

Erfahrungsgemäß würden sich neue Konsummuster zuerst in den Großstädten etablieren und von dort aus auf das Land ausbreiten, fürchtet die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marion Caspers-Merk. Entsprechend verfolgt auch sie mit Interesse, wie sich die völlig neue Konstruktion der Hilfseinrichtung für das neue Phänomen bewährt. Martin Dörrlamm vertritt Jugend- und Sozialamt, der Kollege von La Strada die Einrichtungen der Drogenhilfe, Jutta Arras-Lührs als Ärztin ist für die erste medizinische Betreuung zuständig. Die direkte Zusammenarbeit erspart langwierige Abklärungen zwischen verschiedenen Ämtern und Behörden. Zugleich lässt sich damit auch Verantwortung nicht mehr verschieben. „Wir fühlen uns auch bis in der Nachsorge hinein zuständig“, sagt Jutta Arras-Lührs. Wie eine Trophäe hängt das Bild einer jungen Frau an der Wand, die ein Baby auf dem Bauch liegen hat. Die Gruppe hat die Frau, als sie schwanger wurde, auf der Straße aufgelesen, in ein Methadonprogramm vermittelt, dann in eine betreute Wohngruppe. Heute lebt sie mit ihrem Partner, der clean ist und arbeitet, auf dem Land, das Kind ist gesund, die Mutter bezieht noch Methadon, ist aber sozial integriert. Der Kontakt besteht bis heute fort.

Um an die neue Szene überhaupt heranzukommen, wurden über dem Konsumraum von La Strada an der Mainzer Landstraße Notschlafplätze und ein Tagesruheraum eingerichtet. In dem kleinen Café im Vorraum gibt es eine warme Mahlzeit, belegte Brötchen und Kaffee zum Selbstkostenpreis, Zitronentee wird kostenlos abgegeben. In dem gekachelten „Druckraum“ können die Junkies sich mit sauberem Besteck ihr Heroin injizieren. 180 „Konsumvorgänge“ hat Stefan Beck, der Leiter der Einrichtung, in seiner Tagesstatistik vermerkt, es gab einen Notfall. Für solche Fälle sind die Mitarbeiter vorbereitet, Beatmungsgeräte stehen bereit. Bei 240'000 solcher „Konsumvorgänge“ in den vier Druckräumen der Stadt kam es im vergangenen Jahr zu etwa 700 Notfällen. „Aber in keinem Fall ist ein Abhängiger gestorben, und darauf sind wir auch stolz“, sagt Drogenreferent Fürst. Mit ein Grund, weshalb Frankfurt die Zahl der Drogentoten von 148 im Jahr 1993 auf 30 im vergangenen Jahr senken konnte.

Wieder auf der Straße spricht eine junge Frau mit von Narben übersäten Armen die Ärztin ganz aufgeregt an. „Jutta, ich will in die Entgiftung“, sagt die Frau. Sie wolle endlich raus, wolle kein Heroin mehr spritzen, kein Crack mehr rauchen, kein Methadon und keine Beruhigungspillen mehr. Sie wolle ein normales Leben führen, wolle arbeiten. Sie habe sich auch schon angemeldet in der Klinik, dann aber nicht mehr wie verabredet angerufen. „Ja, das war Scheiße. Aber jetzt, jetzt will ich unbedingt. Und ganz schnell.“ Die Frau, die kaum mehr als 40 Kilogramm auf die Waage bringen dürfte, sagt es, als würde sie ihrem eigenen Entschluss und dessen Festigkeit nicht trauen. Martin Dörrlamm zieht sein Handy aus der Jackentasche, wählt eine Nummer und gibt das Telefon weiter. Noch auf der Straße beginnen die Verhandlungen mit der Klinik. Die junge Frau wird auf eine Warteliste genommen, eine Art Probe auf die Motivation. Das sei üblich, so Dörrlamm. Jetzt wollen er und seine Kollegin aufpassen, dass die Frau die vereinbarten Kontakttermine auch einhält.


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